Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen ist auch 2021 erschreckend hoch geblieben. Wie das Statistische Bundesamt veröffentlicht hat, ist fast jedes zweite gefährdete Kind jünger als acht Jahre und jedes vierte Kind jünger als vier Jahre gewesen.
Die vorliegende Theorie und Praxis der Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt »Kinderschutz inklusiv gedacht« greift ein bedeutsames Thema für alle jungen Menschen auf. Für die jungen Mädchen mit Behinderung gibt es keine verlässlichen Zahlen dazu, wie oft sie Situationen von Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt sind. Diese Wissenslücke muss dringend geschlossen werden, um zum einen verlässliche Angaben über die Häufigkeit zu erhalten und zum anderen mehr über die Situationen des Aufwachsens zu erfahren. Hieraus lassen sich die Hilfen für die jungen Menschen und ihre Familien ableiten. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die pädagogischen Zugänge, die Strategien der Organisationen und die Konzepte der Praxis werden in der vorliegenden Veröffentlichung differenziert betrachtet.
Die vorliegende "Theorie und Praxis der Jugendhilfe" greift ein aktuelles Thema auf: für Demokratie – gegen Rassismus und Diskriminierung. Schon immer haben Hass, Ausgrenzung und Gewalt das demokratische Zusammenleben bedroht. Demokratiebildung und auch eine politische Erziehung junger Menschen sind unerlässlich. Eine Form, dieses Anliegen zu unterstützen, ist die Beteiligung junger Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe. Niemand wird als Extremist geboren. Die Sozialisationsbedingungen entscheiden mit darüber, wie die Entwicklung junger Menschen verläuft. Damit sind die politischen, ökonomischen und soziokulturellen Lebensbedingungen angesprochen. Individualisierung, Pluralisierung und Risikogesellschaft sind Begriffe, die ebenso wie die Umweltkrise, Digitalisierung, prekäre Sicherung und der Klimawandel Kennzeichen dieser Zeit sind. Die Welt ist widersprüchlicher und zerbrechlicher geworden und Populismus gibt vielen eine Heimat. Individueller oder gesellschaftlicher Kontrollverlust, so eine Argumentation, kann zu autoritären Versuchungen führen. Was aber tun? Belehrungen kommen hier nicht weiter. Der Sozialisationsprozess im Lebenslauf ist in den Blick zu nehmen und die Kinder- und Jugendhilfe ist eine Expertin darin, hier unterstützend für junge Menschen und Familien tätig zu sein.
Die vorliegende Veröffentlichung von Holger Wendelin wurde im Auftrag der Graf Recke Stiftung erstellt und wirft einen Blick auf 200 Jahre Geschichte des Umgangs mit hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen.
Angefangen mit der Rettungshausbewegung über die Zwangs- und Fürsorgeerziehung im Kaiserreich und der Weimarer Republik mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 setzt sich die zeitliche Linie mit den Einflüssen aus der Reformpädagogik dieser Zeit und dem Gegensatz der anschließenden NS-Wohlfahrtspolitik fort.
Es folgte der Wiederaufbau, der in dieser Theorie und Praxis der Jugendhilfe als „Wiederaufbau ohne Erneuerung seit 1949 bis 1968“ bezeichnet wird und erst mit den Heimkampagnen der Studentenbewegung ab 1968 in die Reformen der 70er Jahre mündete.
Seit 1990 wurden mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz des SGB VIII immer wieder neue Themen diskutiert und umgesetzt. Mit dem Zusammenschluss ehemaliger Heimkinder, die Mitte der 2000er Jahre Wiedergutmachung, Anerkennung, Aufklärung und Entschuldigung forderten, schloss sich ein Kreis. Ein weiteres Kapitel, das nun aufgeschlagen wird, ist die Kinder- und Jugendhilfe nach der Reform durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz.
Aus der Geschichte zu lernen, bedeutet auch, die in der Öffentlichkeit „vergessenen Nachrichten“ aufzugreifen, Missstände beim Namen zu nennen und die Wurzeln der heutigen Kinder- und Jugendhilfe für ihre Weiterentwicklung zu berücksichtigen.
Eine Grundvoraussetzung für die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe ist es, die Passung zwischen den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedarfen der jungen Menschen und ihrer Eltern und den Hilfen zur Unterstützung und Erziehung herzustellen. Unter diesen Vorzeichen ist es wesentlich, den Fokus noch einmal zu schärfen und im Kontext der inklusiven Elternarbeit individuell in den Einrichtungen zu definieren, was sich dahinter verbirgt.
Das Thema der inklusiven Arbeit mit Eltern in der vorliegenden Veröffentlichung wurde wesentlich auch durch das Projekt Inklusion Jetzt! systematisch aufbereitet und im Kontext der Umsetzung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes diskutiert. Dies fällt in eine Zeit, in der die Kinder- und Jugendhilfe zwischen Krise und Alltag stets aufs Neue ihre Balance finden muss: Von den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die 2015 zu uns kamen, über die Corona-Pandemie seit 2020 bis hin zum derzeitigen Krieg gegen die Ukraine sind es immer wieder Krisen, die die Flexibilität der Mitarbeitenden, Familien, Menschen und Organisationen herausfordern. Neben der Bewältigung dieser akuten Situationen ist es notwendig, die Kinder- und Jugendhilfe inklusiv weiterzuentwickeln, um so den individuellen Bedarfen der Familien und jungen Menschen Rechnung tragen zu können.